Das friedliche Atom
Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Nur noch 3 Tage und dann sollte meine Reise in die „Todeszone“ von Tschernobyl beginnen. Das Pochen meiner Schläfen schien an meine Vernunft zu appelieren. Da waren sie wieder, meine Zweifel.
Ich möchte die einstige „Modellstadt“ Pripyat besuchen. Eine Stadt mit ehemals über 60.000 Einwohnern, die innerhalb von Stunden evakuiert werden musste. Pripyat liegt nur wenige Kilometer vom Unglücksreaktor Nr.4 entfernt, ein Verbleiben in der Stadt ist undenkbar, es wäre der sichere Tod.
In den letzten 2 Jahren reagierte das Umfeld auf mein Vorhaben mit „Mach mal!“ und „Bist du verrückt?“ . Nun war ich mir der Sache selbst nicht mehr sicher.
Am Vortag meiner Abreise kam es zu mehreren Explosionen im AKW Fukushima in Japan. Fast 25 Jahre nach Tschernobyl wiederholt sich also die Geschichte.
Scheinbar bin ich der einzige Gast in meiner Unterkunft. Drei Tage will ich hier bleiben. Die Heizung ist an. Ich genieße den Moment auf dem Zimmer um die ersten Eindrücke seit meiner Ankunft zu verarbeiten.
Neugierde ist etwas anderes und beruht nicht auf Gegenseitigkeit, denke ich mir. Als wir in die Stadt Tschernobyl einfahren, streifen mich unzählige Blicke der Passanten auf der Straße. „Hau ab, Du bist hier nicht willkommen!“ , bilde ich mir ein, aus ihnen lesen zu können.
Hier trägt jeder Einheitskleidung, Modell „Camouflage“. Im rechten Stiefel meines Fahrers Denis steckt ein Kampfmesser. Ein Gefühl von Demut macht sich in mir breit, ich werde es mit nach Hause nehmen.
„Auf jeden Arbeiter in der Zone kommen ca. 2 Flaschen Wodka pro Woche“ erzählt mir Denis . Eine Flasche Wodka ist auch das, was ich mir an meinem ersten Abend im Sperrgebiet besorge. Ich teile sie mit einem Paar aus Finnland, welches mich meine Einsamkeit für kurze Zeit vergessen lässt.
Der Frühling hält Einzug in Pripyat. Die Morgensonne taucht den Beton in Rot. Hier ist niemand ausser mir und meinem Reiseführer. Die Stille ist beklemmend und befreiend zugleich. Wir durchfahren die einstige Prachtallee Richtung Zentrum. In den Spurrinnen steht das Wasser. Wie durch einen Spalier passieren wir die Hochhäuser der Stadt. Kilometerlang. Von aussen sehen sie so friedlich aus, es könnte ein Sonntagmorgen sein, die Straßen noch leer.
Dann plötzlich ein schrilles aufgeregtes Piepsen. Mein Führer lächelt nur milde und zuckt mit den Schultern. „Don´t step on the grass“ höre ich und jetzt lacht er laut. Er nimmt meinen Geigerzähler und erhöht den Schwellenwert der Strahlenwarnung.
Schweißperlen auf meiner Stirn. Dann ein Klingeln in meinen Ohren. Verschämt blicke ich zu Boden ob meiner Naivität. In den kommenden Tagen werde ich dieses Piepsen ausblenden. Eine innere Stimme sagt mir ich solle bleiben, ich gehorche…